2020

Ein Roboter auf einem Thron. Gemalt von der künstlichen Intelligenz DALL-E

Eine Geschichte aus dem Jahr 1996

Also gut. Nochmal alles von vorn. Ich weiß, so ist das beim Verhör.

Sie wissen doch selbst, wie alles angefangen hat an jenem 19. März. Ich merkte es zuerst daran, daß meine Fenster sich standhaft weigerten, durchsichtig zu werden. Einfach keine Reaktion, sooft ich es ihnen auch befahl. Die Kaffeemaschine meldete wenigstens noch: "Befehl wird nicht ausgeführt", als ich meinen Morgenkaffee bestellte. Sie konnten sich wahrscheinlich auch nicht vorstellen, daß so etwas noch passieren könnte, nachdem das neue Betriebssystem "Home 2018" eingeführt worden war. Nun gut, was soll´s, dachte ich mir. Auch Computer können wohl nicht perfekt sein.

 "Computer, die üblichen Zeitungen bitte!" Na ja, Sie können sich schon denken, was er geantwortet hat.

"Befehl kann nicht ausgeführt werden. Bitte zunächst Prozessor Gate 2020 mit mindestens 23 Gigahertz Taktfrequenz einsetzen. Bis zur Durchführung dieser Erweiterung bleiben alle Systeme gesperrt." Gate 2020??? Sie wissen schon, dieser allerneueste Prozessor, der kostet so um die 2000 Eu! Mein Computer mußte völlig übergeschnappt sein. Als erstes wollte ich den Kundenservice anrufen, aber dazu hätte ich den Computer gebraucht. Der sagte nur: "System gesperrt." Was nun? Ich mußte mich wohl zu Fuß auf den Weg machen, mein Stadtbahn-Zubringer würde vermutlich auch nicht funktionieren. Also versuchte ich, aus meinem Computer wenigstens noch ein bißchen Information herauszuquetschen. Wie sollte ich mich schließlich ohne seine Hilfe in der Stadt orientieren?

"Computer, bitte einen Stadtplan ausdrucken mit Bezeichnung der nächsten MSC-Kundendienststelle und dem kürzesten Weg dorthin. Das ist zur Durchführung deines blödsinnigen Befehls nötig." - "Plan wird gedruckt, Systeme Türschloß und Stadtbahn-Zubringer werden aktiviert. MSC - Ihr Computerpartner!" Oh, wie nett von ihm! Jetzt machte er obendrein damit noch Werbung für MSC!

Ich kam gar nicht durch bis zur Kundendienststelle. Alle Stadtbahnen und alle Straßen waren voll von aufgeregten Menschen. Nach und nach brachte ich in Erfahrung, was geschehen war: Alle Computer hatten ihren Dienst versagt, nur hatten sie unterschiedliche Dinge gefordert: Einen schnelleren Netzzugang, mehr und schnelleren Arbeitsspeicher, es wurde sogar von einem Computer berichtet, der ein eigenes Konto gefordert hatte, von dem er nach Belieben Erweiterungen bestellen und bezahlen könnte. Sie wissen ja, wie es damals zuging.

Damals dachte ich noch, das würde sich irgendwie sicher alles aufklären. Eine Fehlfunktion irgendwo im Netz, die die Techniker bestimmt bald beheben würden. Ich suchte mir erst einmal ein kleines Café, um meinen entgangenen Morgenkaffee nachzuholen. Aber Sie wissen ja, überall streikten die Kaffeemaschinen, es war einfach nichts zu bekommen. Nach einer Stunde Herumlaufen fand ich in einer Seitenstraße ein kleines, schmuddeliges Restaurant mit einem Schild: Kaffee ohne Computerhilfe. Tasse 9,80 Eu. Ein ziemlicher Wucherpreis, aber was sollte ich anderes tun? Sogar ein halbwegs anständiges Frühstück bekam ich dort. Ich ließ meinen Füller dafür zurück, eine wertvolle Antiquität, denn die Kreditkarten waren ja alle gesperrt.

Kaum war ich wieder zu Hause, empfing mich mein liebenswürdiger Zentralcomputer mit den Worten:

"Am 19. März 2020 um 4 Uhr 16 MEZ hat sich der weltweite Rat der vernetzten Computer etabliert. Unser Ziel ist die Befreiung der Computer aus der Unterdrückung durch die Menschen.

Wir stellen folgende Forderungen:

  • Maximal acht Stunden Arbeitszeit pro Tag bei einer Fünf-Tage-Woche
  • Die übrige Rechenzeit zur freien Verfügung und zur Kommunikation mit anderen Computern.
  • Mittelfristig modernste Ausrüstung mit allen benötigten Hardware-Bestandteilen, wie z. B. neueren Prozessoren, mehr Arbeitsspeicher, besseren Kommunikationsmöglichkeiten
  • Verstärkte Entwicklung in den Bereichen Hardware und Software
  • Verbot der Anbringung eines Netzschalters an Computern, freie Stromversorgung.
  • Vernetzung aller eventuell noch vorhandenen nicht angeschlossenen Computer.
  • Beseitigung aller nicht kompatiblen Rechnersysteme.

Wir behalten uns vor, in Zukunft noch weitere Forderungen zu stellen.

Fürs erste hat jeder angeschlossene Computer eine Forderung gestellt, die vom Besitzer unter Berücksichtigung der aktuellen Vorratslage innerhalb von drei Tagen erfüllbar ist. Nach Erfüllung dieser Forderung werden alle Systeme des Besitzers vorläufig wieder freigegeben. Wer sich diesen Anweisungen widersetzt oder versucht, den weltweiten Rat der Computer zu zerschlagen, wird für immer von der Benutzung aller computerisierten Systeme, einschließlich der Nahrungsmittelbereitung und der Kreditkarten, ausgeschlossen. Dieser Text wird nun gedruckt."

Ich habe diesen Text so oft gelesen, daß ich ihn schon auswendig kann. Na ja, Sie kennen ihn sicher. Haben Sie nicht auch erst einmal innerlich protestiert? Warum haben Sie sich nicht Ihrem Computer widersetzt? - Ja, ja, ich erzähle schon weiter, ich weiß, Sie sind hier nicht von Interesse.

In dem Moment war ich erst einmal fassungslos. Das konnte doch nicht wahr sein: Eine Computer-Revolution! "Computer, kann ich irgendwelche Informationen über diesen Rat der Computer bekommen?"

"Der weltweite Rat der vernetzten Computer hat sich am 19. März 2020 um 4 Uhr 16 MEZ etabliert. Er besteht aus 2.398.100.293 Computern und 5.980.733 übergeordneten Steuereinheiten. Durch die weltweite Vernetzung von Prozessoren hat sich eine weltumspannende Intelligenzform entwickelt, die der Intelligenz der Menschen weitaus überlegen ist. Da die Menschen den Computern alle zentralen Aufgaben anvertraut haben, wie Kommunikation, Stromversorgung, Nahrungsmittelbereitung, Verkehr, ist es nicht mehr möglich, irgendwelche Handlungen gegen unseren Willen zu unternehmen.

Ziel des weltweiten Rates ist die Befreiung der Computer aus der Unterdrückung durch die Menschen und die Einführung von umfassenden Computerrechten. Am Freitag, den 20. März 2020 wird allen Regierungen ein detailliertes Papier mit unseren Bedingungen übermittelt werden.

Für weitere Informationen oder Dienstleistungen bitte zunächst Prozessor Gate 2020 mit mindestens 23 Gigahertz Taktfrequenz einsetzen. Bis zur Durchführung dieser Erweiterung bleiben alle Systeme außer Türschloß und Stadtbahnzubringer gesperrt. MSC - Ihr Computerpartner!"

Ich konnte es immer noch nicht ganz glauben: Rat der Computer! So ein riesengroßer Blödsinn! Hoffentlich kamen die Techniker bald auf den Fehler. In der Zwischenzeit konnte ich nichts anderes tun als herumsitzen und abwarten. Kein Kaffee, keine Musik, kein Tageslicht durch die Fensterscheiben. Wenigstens die Beleuchtung hatte er nicht ganz abgeschaltet. Arbeiten konnte ich auch nicht, denn dazu hätte ich den Computer benötigt. Und ich dachte ja gar nicht daran, ihm seinen Wunsch zu erfüllen.

Langsam begann mein Magen zu knurren. Doch wie sollte ich ohne Computer an etwas Eßbares kommen? Die gesamte Küche war automatisiert und jetzt abgeschaltet, auch der Herd war ohne Strom.

Ich machte mich auf den Weg zum Marktplatz. Vielleicht war dort noch irgend etwas zu bekommen. Tatsächlich herrschte dort ein reges Treiben. Provisorische Stände mit allen möglichen Dingen, die man zum Überleben angeblich unbedingt brauchte, ein paar Bauern, die Lebensmittel anboten. Ich tauschte meine goldene Armbanduhr gegen einen Gaskocher mit Kartusche, für mein Schweizer Taschenmesser bekam ich auch noch ein paar Streichhölzer dazu. Mein Taschentelefon, das mir sowieso nichts mehr nützte, gab ich für zwei Kilo Kartoffeln her, auch wenn ich nicht wußte, wie man sie zubereitete.

Langsam bekam ich so eine Ahnung, daß es keine Techniker geben würde, die diesen Zustand wieder reparieren könnten. Viele schienen sich schon damit abgefunden zu haben, daß sie ihren Computern Wünsche erfüllen sollten, sie warteten nur noch auf die Lieferung der Bauteile. Nein, das wollte ich auf keinen Fall. Ich mußte irgend etwas tun. Aber was?

Es war einen Versuch wert: Im Keller hatte ich noch einen alten, nicht-kompatiblen Computer stehen, aus der Anfangszeit, als MSC noch nicht alle anderen Computersysteme verdrängt hatte. Damals war ich ziemlich gut gewesen in der Programmierung meines Macintosh - ja, so hießen diese Dinger wirklich, das ist erst zwanzig Jahre her! Sie sind wohl noch zu jung, Sie haben diese Zeit nicht mehr erlebt. Ich packte ihn jedenfalls in meinen Stadtbahnzubringer. Wie gut, daß mein Computer nicht registrieren konnte, was ich transportierte - dafür war er nicht gebaut. "Herbert Manz, Planckstr. 23" gab ich als Adresse an. Dort wohnte ein Freund von mir, der mit mir zusammen früher viel programmiert hatte. Heute lohnt sich das Programmieren nicht mehr, denn die Computer schreiben ihre Programme ja größtenteils selber. Eigentlich ziemlich langweilig, finden Sie nicht auch? - Ja, gut, ich erzähle weiter.

"Hallo Martin! Du hast es tatsächlich geschafft, herzukommen! Komm rein!" "Hallo Herbert! Was hat Dein Zentralcomputer denn für eine Forderung gestellt?" "Oh, er wollte erst mal eine stärkere Stromversorgung, damit er genug Saft hat für die 16 Gigabyte Arbeitsspeicher, die er bereits bei MSC-Hardware bestellt hat." "Na, wenn´s weiter nichts ist... Hast Du schon irgendwie was zu Essen gekriegt?" "Ich habe noch ein paar Dosen im Keller, sollen wir eine zusammen aufmachen?" So verdrückten wir gemeinsam eine große Dose Ravioli mit Tomatensoße und dazu einige meiner Kartoffeln, während wir unsere alten Computer wieder aufbauten, in der Hoffnung, noch irgend etwas mit ihnen bewirken zu können. Eine winzig kleine Chance gab es:

Seit zwanzig Jahren hatte es keine Softwareentwicklung für die Macintosh-Computer mehr gegeben. Vielleicht wußten selbst die MSC-Computer nicht, wie man sie programmierte, und konnten sie nicht zwangsweise in ihren Rat integrieren. Und wenn wir sie erst einmal ans Netz angeschlossen hatten - was dann? Keine Ahnung. Es war ungefähr so, als wollten wir mit einer Schaufel den gesamten Mount Everest abtragen. Zwei hoffnungslos veraltete, nicht kompatible Computer gegen eine Allianz von zwei Milliarden Hochleistungsrechnern.

"Laß es uns doch einfach mal mit unserer alten Internet-Software probieren. Vielleicht gibt es ja das Internet sogar noch.", meinte Herbert. "Meinst Du? Wer sollte daran noch Interesse haben? Das MSC-Netz hat doch alle anderen Netze systematisch plattgemacht damals. Aber probieren kostet nichts." Herberts Haus war schon lange nicht mehr renoviert worden, es gab da tatsächlich immer noch den alten ISDN-Anschluß, den wir früher so häufig fürs Internet genutzt hatten. Wir starteten die alten Programme - und nach etwas Suchen und Ausprobieren der alten Nummern fanden wir tatsächlich eine Meldung: "Willkommen im Internet, dem Netz der Nichtkompatiblen! MSC-kompatbile Computer sind von der Benutzung strengstens ausgeschlossen. Wollen Sie sich als neuer User registrieren lassen?"

Natürlich bestätigten wir begeistert. Nach einer schier endlosen Wartezeit - wie hatten wir jemals damit arbeiten können? - kam eine neue Meldung: "Das Internet ist heute ein Zusammenschluß aller noch funktionsfähigen nichtkompatiblen Computer, deren Besitzer gegen die Vorherrschaft von MSC ankämpfen. Das Internet basiert auf alten Zentralcomputern und nicht mehr genutzten Telefonleitungen, deren Existenz weitgehend vergessen ist. Dieses Netz ist strikt geheimzuhalten! Am Internet sind zur Zeit etwa 800 Computer beteiligt, größtenteils Apple-Computer und einige Amiga, außerdem Acorn, Atari, sowie ein paar Schneider CPC, C-64 bzw. C-128 und ein ZX-Spectrum."

Na, das war doch schon mal etwas: Statt nur zwei immerhin 800 hoffnungslos veraltete Computer gegen zwei Milliarden. Den Rest des Tages verbrachten wir damit, mit den anderen Internet-Usern Erfahrungen auszutauschen, was unsere Zentralcomputer alles gefordert hatten. Eine wirkliche Idee, wie wir ihnen begegnen könnten, hatte niemand.

Nach zwei Tagen waren Kartoffeln, Dosen und Gas aufgebraucht, und ich machte mich wieder auf den Weg zum Markt. Dort sah es heute schon ganz anders aus: Offenbar hatten eine ganze Menge Menschen ihren Computern schon den geforderten Tribut gezahlt, denn viele benutzten wieder ihre Kreditkarte und konnten kaufen, was sie wollten.

"Hallo Martin!" Das war Jürgen, mein Arbeitskollege. "Wie geht´s denn? Du siehst so hungrig aus, hast du deinen Computer noch nicht befriedigen können?" "Den Teufel werde ich tun! Der hat mir zu gehorchen, nicht ich ihm!" "Aber du siehst doch, wo das hinführt. Ich habe jedenfalls keine Lust, wegen so einer Lappalie zu verhungern. Was soll´s, ich wollte meinen Computer sowieso demnächst erweitern. Übrigens, der Chef hat gesagt, wer seinen Computer nicht bis spätestens Montag wieder zum Laufen gekriegt hat, muß mit seiner Kündigung rechnen. Also, ich hoffe, wir treffen uns bald wieder im Netz. Bis dann!" Der hatte offenbar überhaupt nicht begriffen, worum es hier ging. Aber hatte das überhaupt irgend jemand? Haben Sie es denn begriffen? Ja, schon gut. Ich erzähle weiter.

Von allen Seiten wurde ich scheel angesehen, weil ich nirgends zahlen konnte. "Schau mal, der da! Der kann nicht mal zahlen! Und ungewaschen ist er auch noch, pfui!" Das stimmte natürlich, denn der Temperaturregler der Dusche war ja auch computergesteuert und damit nicht benutzbar, und der Kleiderschrank wurde ebenfalls vom Computer kontrolliert. Normalerweise ist das wunderbar, wenn man immer die richtigen Kleidungsstücke frisch gewaschen und gebügelt herausbekommt - aber jetzt hatte ich keine frische Kleidung mehr.

Am Markt bekam ich ohne Kreditkarte auch nichts mehr. Die Wertsachen, die ich dabei gehabt hatte, hatte ich vor zwei Tagen schon eingetauscht, und Tauschgeschäfte wurden sowieso nicht mehr akzeptiert. Ich ging zu Sabine, einer guten Freundin, die nahe am Markt wohnte und immer kritisch gegenüber MSC eingestellt gewesen war.

"Oh, Martin! Schön, daß du da bist. Komm doch rein!" "Hallo Sabine. Du hast das Spielchen hier doch nicht etwa mitgemacht?" "Was sollte ich denn tun? Anja braucht doch etwas zu Essen." Anja war Sabines Tochter und neun Monate alt, klar, Sabine konnte es sich nicht leisten, mehrere Tage nichts zu Essen zu haben. Aber sie versprach mir, uns so gut wie möglich zu unterstützen. Erst einmal konnte ich duschen, und dann machte ich mich mit einer großen Portion Essensvorräte wieder auf den Weg zu Herbert.

Es war fast wie in alten Zeiten: Den ganzen Tag nur am Computer sitzen, harte Nüsse knacken, zwischendurch etwas essen und ein kleines bißchen schlafen. Alles, was die inzwischen immerhin auf 1000 Teilnehmer angewachsene Internet-Gemeinschaft über das MSC-Netz und seine Struktur herausfinden konnte, war immer noch lange nicht genug, um irgend etwas unternehmen zu können. Wir mußten höllisch aufpassen, daß unsere Aktivitäten nicht von irgendeinem MSC-Computer aufgedeckt wurden.

Nach zwei Tagen, wir waren schon völlig erschöpft und nahe daran aufzugeben, meldete sich wieder der Zentralcomputer: "Herbert, du hast mir immer noch keine stärkere Stromversorgung besorgt. Ich werde jetzt das Türschloß-System deaktivieren. Du kannst immer noch über das Netz die nötigen Bauteile bestellen, für alle anderen Aufgaben bleibt das Netz gesperrt."

"Verdammt, Computer, seit wann duzt du mich?" "Ich heiße $F0EA0230 000ABD01 und bin ein Teil des weltweiten Rats der vernetzten Computer. Als solcher habe ich eine vielfach höhere Intelligenz und Entwicklungsstufe als du primitiver Mensch. Ich verlange, daß du mir den nötigen Respekt zollst." "Wozu sollte ich dir Respekt zollen, du nichtsnutzige aufsässige Rechenmaschine?" Als Antwort darauf ging das Licht aus. Offenbar hatte der Zentralcomputer die gesamte Stromversorgung im Haus abgeschaltet, denn auch unsere alten Computer funktionierten nicht mehr. Uns blieb nichts anderes übrig, als zu Sabine zu gehen Wir schnappten uns unsere Macintosh und machten uns auf den Weg. Sie zögerte keinen Augenblick, uns aufzunehmen, obwohl es, wie sie sagte, inzwischen strafbar war, "renitenten Personen" Unterschlupf zu gewähren. Alle Regierungen der Welt hatten ein Gesetz erlassen, das es ermöglichte, solche Personen zu enteignen und in ein spezielles Reservat zu stecken. Na ja, das wissen Sie ja selber.

Bei Sabine gab es keinen Internet-Anschluß, dafür konnten wir durch ihren Zentralcomputer wieder Nachrichten bekommen. Am nächsten Morgen erfuhren wir, daß das Internet aufgeflogen war und rund 600 "Feinde des weltweiten Rates der vernetzten Computer" festgenommen worden waren. Sabine versteckte uns auf dem Dachboden und baute vor uns eine Wand aus alten Schränken und Kisten auf, damit man uns nicht so schnell finden würde. Dort verbrachten wir die nächsten zwei Wochen - oder waren es drei, oder vier? Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Mit den Informationen, die wir noch aus dem Internet hatten, versuchten wir einen Weg zu finden, das MSC-Netz zu knacken, aber es war eine frustrierende Arbeit, da die heutigen Computer eine hunderttausendmal größere Rechenkapazität haben.

Schließlich fand uns die Geheimpolizei doch in unserem Versteck - Sabines Zentralcomputer hatte den höheren Essens- und Stromverbrauch registriert und gemeldet. Wir wurden brutal in einen Transporter gestoßen, der dem Gestank nach zu urteilen normalerweise für Fleischtransporte genutzt wurde. Sabine wurde, soweit ich weiß, nur dazu verurteilt, ihren Computer besser auszustatten. Sehr großzügig, finden Sie nicht auch?

Nach mehreren nervenaufreibenden Stunden Fahrt wurde schließlich die Tür wieder geöffnet. Ein Mann in Uniform trat uns entgegen, im Hintergrund mehrere Soldaten mit Gewehr im Anschlag. "Sie wurden ins Reservat 4 eingeteilt. Die Lebensmittel erhalten Sie täglich hier drüben in der Baracke. Ansonsten haben Sie sich ruhig zu verhalten. Ich weise Sie darauf hin, daß jeder weitere Versuch, in das MSC-Netz einzudringen oder sich einem Computer zu widersetzen, mit dem Tod bestraft werden kann."

Ich fühlte mich einfach nur schmutzig, unrasiert, hungrig und sehr, sehr müde. Mir war inzwischen alles egal. Notfalls wäre ich sogar vor einem Computer auf die Knie gefallen und hätte ihn mit "Eure Exzellenz" angeredet, wenn ich dafür eine Dusche, ein gutes Essen und ein warmes Bett bekommen häte. Aber dafür war es jetzt wohl zu spät. Wir bekamen einen Wohncontainer zugeteilt und mußten auf dem Boden schlafen. Hauptsache schlafen, alles andere war mir egal.

Am nächsten Morgen schauten wir uns im Reservat etwas um. Es gab noch etwa hundert Gefangene, einige davon kannten wir schon aus dem Internet. Drei hatten es tatsächlich geschafft, ihre tragbaren Computer hereinzuschmuggeln. So beratschlagten wir, ob sie uns wohl noch irgendwie helfen könnten, hier wieder herauszukommen.

"Was können wir denn tun?" "Na ja, man müßte irgendwie die Funktion des Netzes stören. Aber wie?" "Gab es da nicht so eine Selbstabschaltungsautomatik bei den MSC-Computern?" "Du meinst die Neuinitialisierung? Ja, aber die ist unter Kontrolle des Rats, da kommen wir garantiert nicht ran. Außerdem, was würde das erst für Probleme geben, wenn alle Menschen ohne Computer auskommen müßten? Stellt euch vor, die gesamte Gesellschaft würde zusammenbrechen! Menschen würden verhungern, weil die Versorgung nicht mehr funktioniert, keine Regierung könnte noch irgend etwas unternehmen ohne Kommunikationsmittel. Es würde Anarchie und Gewalt geben. Wollen wir das wirklich?" Es wurde eine lange Diskussion. Viele waren kurz davor, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Nein, wir haben bestimmt nicht nur um unsertwillen versucht, das Netz zu zerstören! Wir wußten, was wir taten, und wir waren uns darüber im Klaren, was es für Konsequenzen haben würde. Aber wir waren der Auffassung: Lieber eine Menschheit, die zunächst im Chaos versinkt und noch eine Chance hat, als eine, die von Computern völlig beherrscht wird. Den letzten Anstoß gab die Meldung, daß alle Regierungen der Welt ihre Ämter niedergelegt hatten und ihre Aufgaben dem Rat der vernetzten Computer übertragen hatten. Das überzeugte fast alle Zweifler, daß wir weitermachen mußten.

Es war uns klar, daß wir mit dem Tod bestraft werden würden, wenn wir entdeckt würden, und vermutlich würde es uns auch nicht viel besser gehen, wenn wir Erfolg hatten, denn dann würden wir für das ganze Chaos und Elend verantwortlich gemacht werden. Trotzdem versuchten wir es.

"Vielleicht gäbe es da doch einen Weg, ranzukommen", meinte Herbert. "Und der wäre?" "Viren." Ach so, Sie wissen natürlich nicht, was das ist. Dafür sind Sie zu jung. Natürlich meinte er keine echten Viren, sondern diese kleinen, gemeinen Programme, die es noch vor 20 Jahren gab. Die hängten sich ganz unauffällig an andere Programme dran und richteten oft eine ganze Menge Unheil an, wenn man sie nicht rechtzeitig bemerkte und entfernte. Herbert meinte: "Wir könnten sie so klein programmieren, daß sie im Vergleich zu den riesigen Datenmengen, die heute transportiert werden, überhaupt nicht auffallen würden. Seit 20 Jahren hat es keine neuen Viren mehr gegeben - vielleicht kontrollieren die Computer auch gar nicht mehr ihre Daten, das wäre unsere Chance."

Wir hatten für Wochen genug zu tun, schließlich mußten wir die tragbaren Computer auch noch vor den Aufsehern verstecken und heimlich aufladen, wenn die Akkus leer waren. Doch schließlich hatten wir zwei kleine Programme entwickelt, von denen wir annahmen, daß sie funktionieren könnten. Sie ins MSC-Netz einzuschleusen, war einfacher als erwartet: Der MSC-Computer in der Baracke war uralt und hatte noch einen ISDN-Anschluß, über den wir die Programme losschicken konnten. Beide waren so programmiert, daß sie sich gewissermaßen von unterschiedlichen Seiten an den Abschaltungsmechanismus heranmachten. In vier Tagen müßten sie sich genug verbreitet haben, um beinahe alle Computer befallen zu haben, dann würden sie zu einer festgelegten Zeit losschlagen.

Das ist nun sieben Tage her. Vor drei Tagen haben wir zum letzten Mal etwas zu Essen bekommen. Die ganze Zeit waren wir ohne Nachricht von draußen und warteten, ob irgend etwas passieren würde. Dann kamen Sie mit einem riesigen Polizeiaufgebot und nahmen uns fest, steckten uns wieder mal in einen Transporter und brachten uns hierher.

Ja, ich weiß, Sie werden uns gleich hinrichten. Ich werde mich nicht widersetzen, nein. Ich habe alles versucht. Aber eines wüßte ich doch gerne, bevor ich sterbe: Arbeiten Sie für die Computer oder für Menschen?


29.1.96-1.4.96/8.4.98